Die Straße führt durch waldbedecktes sanftes Hügelland.
Der heiße Fahrtwind ist schwer zu ertragen.
Fräulein Garmin gibt mir immer wieder dezente Hinweise auf einladende Seen,
versteckt in den Wäldern links und rechts der Straße.
Schließlich geb ich der Versuchung nach und folge einige Kilometer einem Sandweg durch jungen Mischwald und dann einer ausgefahrenen Autospur auf morastigem Grund,
im Slalom um alte Eichen und Eschen.

Nicht nur die Kühlung tut gut.
Es fühlt sich auch super an, den Schweiß und Staub eines langen heißen Tages loszuwerden.
Die Phrase "wie neu gebohren fühlen" wird wieder mit Bedeutung gefüllt.

Etwa 100km weiter sehe ich ein Schild. was mir im gesamten russischsprachigen Gebiet kein zweites Mal begegnen wird:

Campingplatz.
20km abseits.

Jepp! Das kommt genau zur richtigen Zeit!
Die Straße dorthin ist zum Glück wenig befahren. Denn jedes Auto, das mir entgegenkommt oder den Weg kreuzt, lässt eine Wand aus Staub stehen.

Ich habe einige Mühe, den „Campingplatz“ in einem Gewirr sandiger Waldwege zu finden.
Mein Verweis auf mein Palatka (Zelt) löst beim dortigen Chef erst Verwunderung, dann Belustigung aus.
„Junge, hier gibt es Holzhütten zu mieten! Da wirst du doch nicht in einem Zelt schlafen wollen. Bist du ein Steinzeit-Mensch?“
Ich bleibe ihm gegenüber starrköpfig, und kann mich nach harten Disskussionen schließlich durchsetzen.
Er dagegen besteht darauf, diese Einigung mit seinem „Domskaja Whisky“ zu begießen.

Wie sich herausstellt bin ich auf keinem gewöhnlichen Campingplatz, sondern

im nationalen Leistungszentrum für Wasserski- Artistik der Republik Weißrussland gelandet.

Hier auf dem Platz bin ich eine exotische Abwechslung.
Zuerst schließen die Kinder und die Hunde mit mir Freundschaft.
Kaum steht mein Zelt, steht der Chef neben mir, nimmt mich am Arm und führt mich eine hölzerne Treppe hinauf.
Von der Galerie seines Holzhauses zeigt er auf den See.
„Moja Schena Natascha.“ Der Stolz in seiner Stimme ist unüberhörbar, und seine Augen leuchten.
Seine schöne Frau Natascha winkt uns aus dem Wasser lachend zu.

Das ganze Dachgeschoss seines Holzhauses ist einer Trophäensammlung geweiht: Regale voller Pokale aus vielen Ländern, bündelweise Medaillen und großformatige erstklassige Fotos von Wasserski-Helden in voller Aktion ringen mir ehrfürchtiges Staunen ab.
Mit ganz besonderem Stolz, in dem aber auch etwas Belustigung mitschwingt, präsentiert er mir sein Artefakt aus längst vergangenen Sowjetzeiten:

„Weißt du, was das ist? Ein Deutscher war‘s.“
„Ja, ich weiß. Das kommunistische Manifest.
Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
„Wacht auf, verdammte dieser Erde….“
Wir singen holprig und lachend, ich deutsch und er russisch, die ersten Zeilen der „Internationale“.
Unsere gemeinsame kommunistische Geschichte verbindet eben...

Er reicht mir eine Schwimmweste. „Zieh an!“
An den abgestoßenen Kanten seines Motorbootes bilden viele Farbschichten ein buntes Mosaik. Aber der Außenborder ist alles andere als altersschwach.

Später sitzen wir zu dritt unter einem Baldachin aus Mückengaze um einen Klapptisch herum, der vollständig von Köstlichkeiten bedeckt ist.
Natascha schneidet Speck und Brot für mich ab, der Chef gießt ein.
Ich will nicht unhöflich sein, und so trinke ich doch noch einen „Domska“ (Selbstgebrannten) mit den beiden.
Auf ewige Freundschaft.
Ich muss an Pinselreiniger denken.
Zur dritten Runde lasse ich einen Trinkspruch los, den ich mal irgendwo aufgeschnappt habe:
Pod stalom uwidimsja!“
Die beiden fallen tatsächlich vor Lachen und Begeisterung fast unter den Tisch.
Dann natürlich Männergespräche:
Wie alt ist dein Motorrad? Wie viel PS?
Was musstest du dafür bezahlen?
Meine letzte Antwort bringt ihn etwas aus der Fassung.
„Dafür kannst du hier ein Haus kaufen.
Oder drei Autos.

Gebrauchte.“
Hoffentlich habe ich morgen keine Kopfschmerzen.

Die Morgensonne quält sich rot durch Schleierwolken, als ich aufbreche.
Mein kleiner Kopfschmerz zerstreut sich schnell im heute erfrischend kühlen Fahrtwind.
Ich versuche, mich beim Fahren auf den bald bevorstehenden Grenzübertritt nach Russland einzustimmen.
Regen setzt ein.
Die Straßen werden schmaler und schlechter, die Dörfer kleiner und ärmlicher.

In einem kleinen Laden erstehe ich für meine letzten Belarus-Rubel Brot, Käse, Speck und Wasser.
Dann versperrt ein altersschwacher Schlagbaum die Weiterfahrt.
Ich zücke den Reisepass und die Plastik-Tüte mit den Gesammelten Zetteln und begebe mich in die Grenzer-Holzbude.
Der missmutige Zivilist hinterm Schalter fragt, ob ich Geld tauschen wolle.
Als ich verneine, schlurft er nach draußen und hebt den Schlagbaum hoch.
Der Pass und die Papiere in meinen Händen interessieren ihn nicht.