Es ist nicht mehr weit bis Petrosawodsk, der karelischen Hauptstadt am Onega-See.

Lange vor Sonnenuntergang treffe ich dort ein.
Das ist keine Kunst. Die Sonne geht heute erst halb elf unter.

Die Läden haben noch geöffnet, das kommt mir sehr recht.
Ich brauche ein Hotel-taugliches Handy-Ladekabel .
Im Tankrucksack laden ist nett, aber nicht wirklich zuverlässig: Dauernd irgendwelche Kontakt-Probleme.
USB-Ladegeräte gibt’s zum Glück auch hier an jeder Ecke.
Also kein Problem.

Außerdem rutscht mir meine Zivil- Hose, weil ich meinen Gürtel vergessen habe.
In einem riesigen Kaufhaus werde ich fündig.
Die Gürtel haben Einheitslänge und kosten zwischen (umgerechnet) 30 und 60 Euro.
Das Dutzend.
Ich brauch nur einen.
Aber gekürzt. Die Verkäuferin ist verlegen.
Ein vierschrötiger, zufällig anwesender Kunde zeigt sich hilfsbereit.
Er reißt mir den frisch erworbenen Gürtel aus der Hand und beginnt, mit seinem Taschenmesser Löcher hineinzubohren.
Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass man den Gürtel kürzen und die Schnalle nach hinten versetzen kann.
Dann bringen wir als Dreamteam das Werk zu Ende.
Der Gürtel ist nicht wirklich schick, eher richtig hässlich..
Aber er wird wohl als nostalgische Reminiszenz noch eine Ewigkeit in meinen Hof- und Gartenhosen dienen.

Nicht so das Ladekabel. Das habe ich Mülleimer des Hotels versenkt, weil es schlicht nicht funktionierte.

Das Hotel „Sport“ am Stadtrand von Petrosawodsk ist die einzige Unterkunft, die ich mir schon vor der Abreise zurechtgelegt hatte.
Hier werde ich zwei Nächte bleiben.

Ich kaufe mir im Hafen ein Ticket für das erste Schnellboot, das morgen früh nach Kischi fährt – der UNESCO-Weltkulturerbe- Insel mitten im Onegasee, von der meine Schwiegertochter nicht aufhören kann, zu schwärmen.

Mit solchen Tragflächen- Booten bin ich schon einmal gefahren,
damals, als Halbwüchsiger.
Von Leningrad über die Ostsee nach Petrodworez.
Ich weiß noch, wie mir die Luft weg blieb, als ich den Kopf aus der Luke reckte.

Während ich versuche, die im Wasser dümpelnde "Raketja" mit meinen Erinnerungen in Übereinstimmung zu bringen
muss ich dran denken, was mir letzten Abend die Dame von der Rezeption erzählte:
Im Frühjahr sind auf dem Onegasee zwei dieser Boote im Sturm gekentert.

Es gab mehr als hundert Tote….

Aber der russische Wetterdienst verspricht mir über’s Handy Windstille und strahlenden Sonnenschein.

Also alles prima.

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Die Kriminalität in Russland ist bekanntermaßen legendär.
Meine nagelneue AT einen ganzen Tag allein am Hafen stehen lassen-oh nein - das ist mir nicht wirklich geheuer.
Also hab ich mir extra für den heutigen Tag ein Vorhängeschloss eingepackt.
Für die Bremsscheibe.

Aljona hatte Recht:
Wer in Russland war und Kischi nicht gesehen hat, hat wirklich was verpasst.
Hier kann man anschaulich miterleben, was es heißt, Gebäude oder Schiffe aus Holz zu bauen.
Also ausschließlich aus Holz.
Als altgewordener Holzschiffchen- und Flitzebogenbauer krieche ich in jeden Winkel und komme aus der Begeisterung gar nicht mehr heraus.

Nein, ich will gar nicht mehr davon erzählen.
Das muss man selbst erleben.