Kirowsk.

Ich sitze auf einem Mäuerchen und lutsche Bananen,

die ich nebenan im Supermarkt gekauft habe,

zusammen mit ein paar Äpfeln, Wasser, einer Tüte Milch und Brot.

Und einer Zeitung im BamS- Format.

Der Komsomolskaja Prawda.

Die liest sich ebenso gut.

Die großzügig bebilderten Seiten zeigen ziemlich viele Uniformierte:

Russische Soldaten beim Training, Kampfpiloten, Seekadetten,

Generäle beim Fachsimpeln mit Putin, Polizisten auf der Wacht…

Russland ist sicherlich von allen Seiten schwer bedroht.

Aber es braucht sich keiner zu sorgen!

 

Ich zerreiße und zerknülle Putin samt Generälen, pilzesuchender Babuschkas, der Großwetterlage, Fußballern und dem Kreuzworträtsel und stopfe allesamt in meine Stiefel.

Mit einer nackten Schönheit hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht.

 

Die Zeitung reicht für drei Füllungen.

Zwischendurch kaue ich an Brot und Speck und Äpfeln.

Nachdem ich die nassen Socken zum Trocknen unter

den Spanngurt der Ersatzreifen geklemmt habe

und meine Füße in der Sonne die Waschhaut wieder verloren haben,

fahre ich satt, frischbesockt und wohlgemut weiter.

 

Als Kind konnte ich von Jagdgeschichten nicht genug bekommen.

Ein Traum hat sich festgefressen:

Einmal einem Elch in freier Wildbahn begegnen.

Dem König der Wälder.

Tagaktiver Einzelgänger, über zwei Meter hoch und eine halbe Tonne schwer. So steht es bei Wikipedia.

Auf der Kola-Halbinsel kommt auf zwei Menschen ein Elch.

Wenn man bedenkt, dass die Hälfte dieser Menschen in Murmansk lebt, verschiebt sich das Verhältnis für den Rest des Areals auf 1:1.

 

Ich habe hier zwar schon eine Menge Menschen getroffen,

aber noch keinen Elch.

Doch heute Nachmittag habe ich gute Chancen.

 

Mein Ziel ist der Umbosero.

So groß wie der Bodensee, aber etwas abgelegener.

An seinen Ufern existiert, von einem halben Dutzend Jagd- und Anglerhütten abgesehen, keine einzige menschliche Siedlung.

Einige Kilometer südlich des Sees soll es ein Dörfchen geben.

Bei Google Earth hab ich auch eine Straße dahin entdeckt.

Kein anderer Weg führt so dicht heran an die Grenze der absolut unerschlossenen Wildnis.

 

Während ich über einen Schotterdamm durch Sümpfe Richtung Osten rolle,

überkommt mich wieder die Jack-London-Romantik,

der ich mich vor Jahrzehnten so hemmungslos ausgeliefert hatte.

Die Goldsucher, die im kurzen Sommer versuchten, zu Fuß den Klondike zu erreichen

– das sind die wahren Helden!

Ha! -auf deren Spuren bewege ich mich jetzt!

Zugestanden: Es gibt kleine Unterschiede.
Knapp hundert Packpferde unter mir, GPS und Gore-Tex….
Eigentlich bin ich grad wieder der Siebenjährige, der mit dem Holzgewehr in der Hand wähnt, er sei Winnetou.

Heute Vormittag in den Bergen gab es weder Mücken noch Bremsen.
Hier aber kann ich nicht anhalten, ohne sofort von einer blutrünstigen Wolke umgeben zu sein.
Vor allem die Bremsen sind furchteinflößend.
Wo sie zum Anzapfen kommen, läuft hinterher ein rotes Rinnsal über die Haut.
Noch dazu sind sie beängstigend schnelle Flieger.
Nach einem Foto- Stopp muss ich immer einige hundert Meter mindestens Tempo 30 fahren,
um ein angriffswütiges Geschwader hinter mir zu lassen.

Ich gebe der AT die Sporen.
Sie trägt mich leichtfüßig über Steine und hölzerne Reste der Straßenbefestigung, durch Sand und flache Pfützen.

Mit wenigstens 20km/h Überschuss überhole ich einen Quad- Fahrer.
Er ist seit 10km der erste Verkehrsteilnehmer, dem ich auf dieser Piste begegne.

Die kleinen Hügel links und rechts verlieren sich,
die Gegend wird flach und feucht.

Die Pfützen werden tiefer.
Ich versuche die Spur zu erraten, wo die Masse der Fahrzeuge durchgefahren ist.
Hier wird der Schlamm hoffentlich aufgewirbelt und weggespült sein, so dass genügend Gripp für meine AT übrigbeleibt.
Denn Grip brauche ich. Die großen Steine liegen immer noch irgendwo im Trüben,
und ich habe nur eine Chance: Im Wasser ausreichend auf Tempo bleiben, dass das Vorderrad über alle Hindernisse hinweg geschnellt wird.
Bodenfreiheit hab ich ja genug.

Der Quad-Fahrer überholt mich mit einem mitleidigen Seitenblick.

Die Pfützen werden zu Seen, die auf der Piste in schönster Regelmäßigkeit aufgereiht sind
wie Perlen auf einer Kette.
Meine Stiefel sind schon längst wieder voll Wasser,
obwohl ich bisher jeder Versuchung wiederstehen konnte,
die Füße von den Rasten zu nehmen.
Nach einem ersten Erschrecken hab ich auch realisiert,
dass ich ordentlich am Gashahn ziehen muss,
sobald die Taschen am Sturzbügel und die Seitenkoffer im Wasser verschwinden.

Nur nicht langsamer werden!

Immer öfter habe ich Angst, dass das Hinterrad wegen des tiefen Wassers
und des damit verbundenen Widerstandes nicht genug Gripp aufbauen kann,
um mich auf Geschwindigkeit zu halten.

Dann die Erlösung.
Ein ehemaliger Bahndamm verspricht pfützenfreie Fahrt.
Ich nehme an, er führt in mehr oder weniger besiedelte Gebiete.
Perfekt!

Nach einigen Sekunden äußerst entspannter Fahrt dann die Ernüchterung.
Ein Schneeschmelzen-Hochwasser oder ein Erdbeben oder ein Elch oder wasauchimmer hat dem Damm eine ein-Meter-Lücke verpasst.
Kein Problem für einen Fußgänger.
Oder einen Radfahrer.
Aber für mich und die AT unüberwindbar.
Zum Wenden fehlt der Platz.
Der AT fehlt leider der Rückwärtsgang.

Also schieben.
Das Thermometer klebt hartnäckig bei 25 Grad.
Helm absetzen oder Handschuhe ausziehen verbietet sich wegen der vampiresken Zeitgenossen.
Ich wuchte die AT zurück.
Schweiß rinnt mir in die Augen. Meine Brille beschlägt.

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Ich halte Ausschau nach dem Dörfchen Oktjabrski
und sinniere derweil über den Anachronismus dieses Ortsnamens.
Der Monat Oktober findet im russischen Sprachgebrauch immer noch häufiger Verwendung,
als alle restlichen Monate zusammen.
Die Große Sozialistische Oktoberrevolution bleibt,
ob man will oder nicht, unvergessen.

Das Philosophieren hat spätestens beim nächsten Straßensee ein Ende.
Diese Seen sind oft doppelt so breit wie die Straßenabschnitte dazwischen
– eine Folge der vielen Versuche, die Gewässer zu umfahren.
Unmittelbar links und rechts am Rand dieser Seen bildet sperriges Gestrüpp eine undurchdringliche Mauer.
Zumindest für die AT.
Einem dieser armeegrünen Uralt-Allrader, die hier bevorzugtes Freizeitgefährt sind,
dürfte dieses Grünzeug weniger entgegenzusetzen haben.

Vor jedem größeren See halte ich an,
versuche, meinen Schiss zu veratmen und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren:

Locker bleiben.
In Fahrt bleiben.
Senkrecht bleiben.

Hoffentlich erwische ich im Wasser keinen dieser großen Steine,
die ich auf den trockenen Abschnitten immer wieder umfahren muss.
Eine bevorzugte Durchfahrt ist meist nicht mal zu erahnen.
Also mitten durch - in der Hoffnung, dass hier der Grund stabil ist.
Die Steine können eh überall lauern.

Auch ist mir klar, dass ich die AT hier nicht ablegen darf,
wenn ich keinen Wasserschlag riskieren will.
Ein laues Gefühl bleibt trotz aller Selbstsuggestion.

Mit hochtourigem ersten Gang tauche ich ein.
Wie Nordseeschlepper schieben die Sturzbügeltaschen Wellen auf .
Die Stiefel bleiben fest auf den Rasten. Jedes Anheben hätte zur Folge,
dass sie durch den Wasserdruck nach hinten gespült werden.

Das Wasser steigt mal wieder bis über den Stiefelrand.
Mit jedem Zentimeter Tauchtiefe muss der Motor kräftiger drücken, um den Vortrieb zu halten.
Es ist mir bewusst: Auch der Auftrieb der Koffer arbeitet gegen mich.

Doch der Grund erweist sich durchgehend als stabil und tragfähig,
so dass mein Zutrauen in die schon ziemlich abgefahrene K60- Hinterhand wächst.
Auf Kiesgrund, wie ich ihn heute Vormittag erlebt habe,
wäre so eine Durchfahrt unmöglich gewesen.

Aber wahrscheinlich würde ich auch dann, wenn ich zum Stillstand kommen sollte,
relativ unbeschadet auf`s Trockene kommen.
Dann eben in halber Schrittgeschwindigkeit und nebenher watend.
Hauptsache, ich halte die AT senkrecht.

Da passiert es: Das Vorderrad springt zwei Handbreit nach links.
Mit der rechten Fußraste stoße ich heftig gegen ein unsichtbares steinernes Hindernis.
Alles geschieht schnell und unvermittelt.
Aber nicht unerwartet.
Ich bleibe am Gas und lasse die Füße oben.
Irgendwie komme ich wieder auf gerade Spur.
Nach einer Sekunde ist der Spuk vorbei und ich pflüge wie vorher durch’s Wasser.

Aber der Adrenalinstoß tut seine Wirkung.
Auch die Hitze macht mich fertig.
Und die Stunden, die ich heute schon auf Pisten verbracht habe, waren auch nicht ohne.
Der Tag hat schon arg an meinen mentalen und physischen Reserven genagt.

Wieder auf dem Trockenen beschließe ich, eine Pause einzulegen.

Die Pause ist nicht wirklich erholsam.
Ich klappe den Kinnteil des Helms auf, um Wasser zu trinken,
und werde innerhalb weniger Sekunden zum vielfachen Blutliferanten.
Als Gegenleistung erhalte ich eine männlich-markante Kinnpartie.

Zum Fotografieren hatte ich schon lange keinen Nerv mehr.
Jetzt zücke ich doch die Kamera und versuche,
eine dieser riesigen buntschillernden Bremsen ins Bild zu kriegen.
Vergebens.
Diese unglaublich schnellen und gewandten Flieger,
bleiben nie länger als eine Sekunde an einem Ort sitzen,
wenn dort nicht gerade eine frische rote Quelle sprudelt.
Ich bekomme nicht mal eine erschlagen, um ihre Leiche für ein Foto zu drapieren.

Eine der nächsten Pfützen hat offensichtlich einen Ablauf in die benachbarten Sümpfe,
so dass der Randbereich nicht unter Wasser steht.
Vielleicht komme ich ja am Rand entlang durch.
Das sieht zwar schlammig aus, aber hier lauern wenigstens keine Findlinge im Trüben.

Ich hätte es besser wissen müssen.

Aber mein Hobby-Geologenblick, der mir sonst ziemlich zuverlässig sagt,
wo in einem Flusstal Kies und wo die feinen Schluffe zu erwarten sind,
scheint gerade in unerreichbaren Hirnregionen geschlummert zu haben.

Und so stecke ich Sekunden später fest wie einbetoniert.

Einen dermaßen hinterhältig klebrigen Brei habe ich noch nicht erlebt.

Beim zügigen Drüberlaufen trägt mich der Grund ganz gut.
Während ich aber den rechten Seitenkoffer abmontiere, umfließt er still meine Stiefel.
Die wenigen Sekunden reichen.
Der folgende Versuch, mich von der Stelle zu bewegen, bringt mich in’s Straucheln
und lässt kurz die Gewissheit aufblitzen, meine Stiefel seien für immer und untrennbar mit Mutter Erde verbunden.
Es kostet tatsächlich Kraft und eine Menge Schweiß,
die Koffer an Land zu bringen.

Jetzt noch die Maschine.

Das Hinterrad dreht sich auf der Stelle und verspritzt Schlamm, während das vordere wie in Blei gegossen festsitzt.

 

Vage Erinnerungsfetzen an eine Physik-Vorlesung über thixotrophe nichtnewtonsche Fluide schieben sich in mein Bewusstsein, und mir wird klar, dass ich hier etwas erlebe,

was ich bisher nur aus Comics kannte:

Treibsand.

Ich knie mich neben das Vorderrad und versuche, es mit den Händen an den Speichen zu drehen.

Zäh, sehr zäh löst es sich aus seiner Umklammerung und bewegt sich einige Millimeter.

Was hilft hier? Geduld. Und Spucke.
Ich stehe links neben der AT und achte darauf,
alle Sekunden die Füße zu bewegen, um nicht wieder festzubacken.
In kurzen Impulsen bringe ich mit Kupplung und Gas das Hinterrad zum Zucken.

Nur nicht zuviel, sonst gräbt es sich zu tief ein.
Das Vorderrad bewegt sich in Millimeterschüben vorwärts,
Keine Pause machen, sonst bäckt auch das Vorderrad wieder fest.


Der Schweiß läuft mir unterm Helm hervor in den Nacken und tropft mir vom Kinn.
Das AT-Gebläse drückt Mücken durch den Kühler.
Ich arbeite blind, weil meine Brille trotz geöffnetem Visier schon lange beschlagen ist.
Abnehmen geht nicht, weil sie schließlich meine Augen vor Stechzeug schützen muss.
Ich weiß nicht, wie es sich mit zugeschwollenen Augen fährt
und will es auch nicht wissen.

Nach endlos scheinenden Minuten – es können höchstens zehn gewesen sein – steht die AT zwei Meter weiter auf stabilem Sand. Ich hatte wohl wirklich Glück, dass der Treibsand nur ca. 15cm tief war. Wäre er wenig tiefer gewesen, hätte ich mich und die AT wohl nicht ohne Hilfe befreien können.
 

Jetzt bin ich wirklich am Ende.
Ich will die AT auf dem Seitenständer parken.
Aber sie beschließt, sich ein Weilchen auf’s Ohr zu legen.
Es sei ihr gegönnt.

Ich hätte wohl auch ein Päuschen nötig.

Aber Ausruhen in Form von Nichtstun ist vollkommen sinnlos:
Es gibt nur eine Möglichkeit, den Hitzestau unter Helm und Kombi zu lindern.
Fahrtwind.

Also entlade ich die AT soweit, dass ich sie wieder auf die Beine stellen kann….

….. richte alles wieder und rolle weiter Richtung Osten.
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Oktjabrski ist immer noch nicht aufgetaucht.
Ich hätte es längst erreicht haben müssen.
Auch ist mir, seit mich vor Stunden der Quadfahrer überholt hat,
kein weiterer Mensch begegnet.
Bin ich von der Strecke abgekommen?

Ich inspiziere mein dürftiges Kartenmaterial und versuche, meine Navi-Position damit abzugleichen.
Wenige Kilometer nördlich muss das Südufer des Umbosero sein.
Ich habe aber bisher keinen Pfad oder Weg gesehen, der in diese Richtung abgebogen wäre.

Die Seen werden auch nicht kleiner,
dafür aber irgendwie mein Mut.

Irgendwann wird mir klar, dass Oktjabrski weit im Westen liegen muss.
Vor mir liegen lediglich 300km unbesiedeltes Gebiet bis zum östlichen Ufer der Kola-Halbinsel.

Ich wende mit kühnem Schwung und rolle der tiefen Sonne entgegen Richtung Westen, zurück in die Zivilisation.

Zwei Stunden später tauchen Reste von Häusern auf.

Hier bin ich am frühen Nachmittag schon mal langgekommen.

Ich stiefele durch das Gebüsch und werde fündig:
überwucherte Gartenzäune, gesprengte Fundamente, junge Bäume in Zimmern ohne Dach.
Der Rote Oktober ist doch nicht unsterblich.