Ich bin in Russland. Hinter mir ein kleiner Grenzposten, der seine Bedeutung verloren hat.
Eine Grenze, die keine mehr ist.
Wächst hier zusammen, was zusammen gehört?
Europa?
Mein Verstand erinnert mich daran, dass ich hier ziemlich genau im Zentrum Europas stehe.
Der Flächenschwerpunkt in Litauen liegt nur reichlich 200km von hier.
Mein Bauch widerspricht vehement: Europa liegt weit von hier im Westen!
Dieser Streit wird mir die nächsten Tage immer wieder am Gemüt kratzen.

Vor mir der Weg nach Norden, knapp dreitausend Kilometer über russischen Boden.

Heute will ich mir noch den Kreml in Weliki Nowgorod anschauen.
Bis dahin fahre ich über gut ausgebaute, aber fast leere Straßen.

In einer Kleinstadt ist dennoch Stau, weil die Feuerwehr das Wasser eines Wolkenbruches aus den Kellern pumpt.
Ich wate durch einen überschwemmten Platz zum nächsten Geldautomaten.
Auch ein Shop der Telefongesellschaft MTS ist in der Nähe.
Hier erstehe ich eine Sim-Karte. Laufzeit 30 Tage, funktioniert in ganz Russland.
Versichert jedenfalls die junge Frau am Schalter.
Am Abend wird mir damit ein fünfsekündiges Telefonat nach Hause gelingen.
Immerhin.
Danach höre ich bei all meinen Anruf-Versuchen immer wieder dieselbe Dame,
die sich mit gereizter Stimme über irgendetwas bei mir beschwert.
Leider kann ich ihr auch nicht helfen – mein Russisch ist nicht so gut,
als dass ich ihren komplexen Jammer gefühlvoll mittragen könnte.
So verlagere ich für den Rest der Reise meine Kommunikation auf WhatsApp.
Das klappt.
Wenn ich mal irgendwo Wlan finde.

Der Große Vaterländische Krieg ist allgegenwärtig.
Alle paar dutzend Kilometer erinnert mich eine Gedenkstätte daran, dass es das russische Volk war,
welches unter unendlichen Opfern Europa von den Gräueln des Faschismus befreit hat.
Sei es in größeren Städten oder in offener Landschaft am Straßenrand: Die abgelegten Blumen sind immer rot und frisch.

Eine PePeScha aus Holz ermöglicht auch Kinder nachzuerleben,
wie großartig man sich als Rotarmistischer Held fühlen kann.

Irgendwie fühle ich mich an die Schul-Arbeitsgemeinschaft „Junge Tankisten“ erinnert,
wo meine Mitschüler in Trabi-motorisierten Papp-Panzern taktische Manöver nachvollziehen durften.

 

Manchmal begegnet mir 15 Minuten lang kein einziges Fahrzeug.
Ich genieße die sprichwörtliche russische Weite.
Dörfer sind rar.
Selten säumen Felder die Straße.
Ich sinniere darüber, wie einfach es hier sein muss, Straßen zu planen:
Eine Landkarte, ein Strich mit dem Lineal, und schon können die nächsten 100km in Auftrag gegeben werden.

Was mich wirklich fasziniert:
Flüsse im Flachland ohne jegliches Korsett.

Mit entspannten 110km/h komme ich gut voran.
Erlaubt sind 90.
Nach offiziellem Straf-Katalog wären ca. acht Euro fällig, wenn ich geblitzt werden sollte.
Aber ich sehe – wie schon in Weißrussland - den ganzen Tag nicht einen einzigen Verkehrs-Polizisten.
Die Nähe Nowgorods kündigt sich durch zunehmenden Verkehr an.
Auch die Regenschauer werden dichter und häufiger. Über lange Strecken ist der Asphalt von einer Wasserschicht bedeckt.

Die zweispurigen Straßen sind breit genug, dass trotz Gegenverkehrs überholt werden kann.
Von dieser Möglichkeit wird rege Gebrauch gemacht.
Am Morgen fand ich den ersten Regen ja noch erfrischend,
aber jetzt wird es anstrengend.
Denn ich bin nicht der Einzige, der das Tempolimit großzügig interpretiert.
Sattelzüge überholen mich und tauchen mich viel zu viele Sekunden lang in Wassernebel.
Visier und Spiegel geben nur vage Andeutungen des Verkehrsgeschehens um mich her weiter.
Uralt-Ladas mit defekten Rückleuchten schleichen am Straßenrand, während Mercedes- und Volvo-Limousinen in beiderlei Richtung um die Vorherrschaft auf der Mittelspur streiten.
Das vertraute Gefühl, auf dem Motorrad der Hecht im Karpfenteich zu sein, will sich nicht einstellen.
Ganz und gar nicht.
Ich ertappe mich bei dem Wunsch, rechts ran fahren und anhalten zu wollen, wenn ich im Rückspiegel wieder die Umrisse eines Trucks erahne.
Ich fühle mich wie das Mohnkorn zwischen den Mühlsteinen.
Vielleicht bin ich auch das Sandkorn im Getriebe.

Eine halbe Stunde vor Nowgorod reißt der Himmel auf.
Die Rushhour ist vorüber.
Die Abendsonne vergoldet die Kuppeln des Kremls, als ich meine AT auf dem fast leeren Touristenparkplatz abstelle.
Die meisten Souvenier- Kioske haben schon die Läden vorgeschoben,
einige wenige hoffen noch auf letzte Touristen.

Ich spreche die Kiosk-Dame auf ihre Putin- Devotionalien an. Freudig und auch ein wenig stolz stellt sie eine Auswahl für ein Handy-Foto-Shooting zusammen.

m Kreml steht ein gigantisches Monument mit zahllosen in Bronze gegossenen Szenen.

Ich schließe mich einer jungen Familie an. Der Vater erklärt seiner Gattin und der halbwüchsigen Kinderschar einige der mehr als hundert dargestellten Figuren : Katharina die Große, General Kutusow, Puschkin, Gogol….
Iwan der Schreckliche aber fehlt: Der hat seinerzeit die Bewohner Nowgorods massakrieren lassen.

Dann stehe ich vor einem ziemlich großen, vor fast fünfhundert Jahren in Magdeburg gegossenen Bronzetor einer Kathedrale und male mir aus, wie dieses Monstrum mit Schiff und Ochsenkarren seinen Weg bis hierher gefunden haben mag…

Ich schlendere auf der Fußgängerbrücke über den Wolchow.
Über Lautsprecher werben die Fahrgastschiffe um späte Kundschaft: weiter unten am Fluss und an den Ufern des Ilmensees liegen malerisch Klöster und Schlösser.

Der Vorplatz des Kreml sieht aus, wie eben postsowjetische Stadtzentren aussehen:
Russlands Farben, bewacht von Wladimir Iljitsch.

Ich beschließe, noch ein paar Kilometer zu fahren in der Hoffnung, eine Möglichkeit zum Zelten zu finden.