Aus tiefen grauen Wolken fällt ein stetiger Regen.
Ich reihe mich in den Verkehr ein, der im trüben Morgenlicht durch Wassernebel tost.
Links und rechts der vierspurigen Überlandstraße Richtung St. Peterburg
habe ich gestern Abend nur versumpfte regenverhangene Wälder und Wiesen gesehen.
Auch die wenigen schlammigen und vermüllten Rastplätze waren nicht geeignet, mich zum Zelten zu animieren.

Das Motel war einfach, aber teuer, und hat meine letzte Barschaft verschlungen.
Jetzt brauch ich erst einen Geldautomaten, bevor ich mir einen Morgenkaffee gönnen kann.
Unterm Helm singe ich vor mich hin.
Lindenberg. Natalie aus Leningrad….
Noch drei Stunden, dann bin ich dort.

Mittlerweile rolle ich auch zwischen dem Fernverkehr, der aus Richtung Moskau dazugekommen ist.
Die zwei Richtungsspuren nach Norden sind voll. Trucks liefern sich Überholmanöver bei Tempo 110.
Auch hier werden aus den zwei Spuren manchmal drei gemacht, wenn sich auch noch PKW an diesem Spiel beteiligen.
Ich denke an die Statistiken, die ich im Internet gefunden hatte:
Gemessen an Fahrzeugen ist die Anzahl der Verkehrstoten in Russland 14 mal höher als in Deutschland.
Mir ist nicht ganz geheuer.

Dann ein Sattelzug unterhalb der Böschung. Er liegt auf der rechten Seite. Der Fahrer hat seine Tür schon in den Himmel gestemmt und ist dabei, aus dem Wrack zu klettern.
Vielleicht hat ihn das zerfahrene und aufgeweichte Bankett aus der Bahn geworfen.

Noch 50km bis St. Petersburg.
Stau.
Die Fahrzeuge stapeln sich in vier oder fünf Reihen, stehen mit laufenden Motoren und Scheibenwischern.
Zum Glück sind die Schluchten im zerfahrenen Bankett oft so tief, dass sich ein PKW nicht hinein trauen dürfte.
So finde ich, durch Pfützen kletternd und zwischen LKWs Slalom fahrend, einen Weg am Stau vorbei.

Einige Kilometer weiter liegen Kartons auf der Straße.
Sie sind der offensichtliche Grund, warum der Verkehr nicht fließt.
Auf der Gegenspur liegt ein umgekippter Truck. Das Fahrerhaus ist arg zerstört.

Nochmal zweihundert Meter weiter wieder ein Truck, halb die Böschung heruntergerutscht, aber noch auf den Rädern.
Diesmal in meine Fahrtrichtung. Auch dieser hat seine Ladung auf der Fahrbahn verstreut.
Die beiden werden sich wohl etwas zu nah gekommen sein….

Am Abend werde ich noch ein Knäuel von fünf ineinander verkeilten PKW überholen und einen vierten abgeflogenen Truck passieren.
Letzterer war auf der wenig befahrenen, kleinhügeligen und engkurvigen Straße nordöstlich des Ladogasees unterwegs, als hätte er ein Formel-1-Rennen zu gewinnen.
Einige Kilometer vorher hatte er so hinter mir gedrängelt, dass ich rechts ran fuhr, um ihn mit leer scheppernder Kippermulde an mir vorbeirasseln zu lassen.

Im Stop and Go geht es nach St. Peterburg hinein.
Von der Peripherie bis zum Zentrum brauche ich gut zwei Stunden.
Ich will jetzt endlich einen Kaffee!

Ich fitze mich durch die mit Touristenbussen verstopften Einbahnstraßen der Innenstadt, über Kanalbrücken, vorbei an Winter-Palais und dem Denkmal Peter des Großen.
Trotz strömenden Regens reiht sich vor dem Eingang zur Eremitage eine mehrere hundert Meter lange Menschenschlange.
Mein Handy ist wasserdicht, so dass ich einige Fotos machen kann.
Aber wo ich auch halte: Ich stehe im Halteverbot, und es kommt sofort einer der allgegenwärtigen Milizionäre und fordert mich zum Weiterfahren auf.

 

Neben der Kirche „Erlöser auf dem Blut“ finde ich einen Parkplatz.
In der Nähe wird sich sicher auch Cash auftreiben lassen.
Ich mache mich auf den Weg, vorbei an Souvenir-Buden und Straßenrestaurants.

T-Shirts für jede Kragenweite.

Den in der Mitte erkenne ich an seiner Zottelfigur.
Rechts daneben Viktor Zoi, der Jim Morrison Russlands.

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Es ist genau 40 Jahre her, dass ich hier,
bei bestem Sommerwetter durch Gassen und Kirchen, Museen und Cafés streunend,
eine Woche lang aus dem Staunen nicht herausgekommen bin.
In meiner Erinnerung ist Leningrad eine der schönsten Städte,
die ich je in meinem Leben gesehen habe.

St. Petersburg wird mich mit Sicherheit wiedersehen.
Aber dann komme ich mit Flugzeug.
Oder Schiff.

Jetzt also der verspätete Morgenkaffe.
Außerdem hab ich Mittagessen- Hunger.
Ein Restaurant wirbt mit einem Wappen, welches mir irgendwie vertraut vorkommt.

Ausgerechnet hier muss mir die DDR wieder begegnen?
Das kann nur ein schlechter Scherz sein.

Oder ein richtig guter.

Okay, den Spaß nehme ich mit.

Die Speisekarte ist im Stil der Tageszeitung „Neues Deutschland – Zentralorgan der SED“ gehalten.

Bei einem Thälmann-Pionier bestelle ich Spaghetti Bolognese.

Die Werbung ist offensichtlich zielsicher platziert:
Am Nachbartisch schwatzt eine Rentnergruppe in breitem Sächsisch.
Als ich mich als Ossi oute, schallt mir ausgelassenes Hallo entgegen.
Woher? Wohin?
Es dauert nicht lange, bis die politische Weltlage thematisiert wird:
Nein, der Russe ist NICHT ....!
Der verteidigt sich nur! Die NATO soll nur …. Napoleon und Hitler haben auch schon …..

Ich schlürfe meine Nudeln und sehe zu, dass ich weiterkomme.

Weiter Stau von Ampel zu Ampel.
Obwohl die Stadt verstopft ist, fährt es sich ziemlich entspannt.
Drei Auto-Reihen auf zwei Fahrspuren sind völlig normal,
trotzdem wird mir mit meinen breiten Koffern bereitwillig Platz gemacht,
wenn ich in Rückspiegeln auftauche.
Jeder Quadratmeter wird genutzt, man muss ein bisschen flink sein.
Aber Berlin zur Rushhour habe ich bissiger in Erinnerung.
Von Paris ganz zu schweigen.

Ich fahre noch einige hundert Kilometer auf guten Straßen Richtung Norden, bis ich mich spät abends ein heimeliges Hotelchen am Nordufer des Ladogasees aufnimmt.
Die Balken meines Dachgeschoss-Büdchens hat der Zimmermann nicht mit der Säge, sondern unverkennbar mit der Axt zugerichtet.

Die Landschaft ist hier ganz anders als südlich von St Petersburg.
Niedrige Felskuppen, Fichtenwald, rauschende Flüsse.

Ich bin in Karelien angekommen.

 

Die Straße windet sich in engen Kurven.
Dreidimensional.
Mein Motorradfahrerherz jubelt.
Aber ich merke schnell, dass ich höllisch aufpassen und mir jeden Übermut verkneifen muss.
Hinter jeder Kuppe kann es unvermittelt mit 12% Gefälle 50 Meter hinuntergehen, und während dessen scharf nach rechts/links abbiegen.
Auch wechselt der erstklassige Asphalt manchmal ohne Vorwarnung für einige hundert oder tausend Meter in Schotter oder Schlamm.