Ich habe mich gerade wieder in meine Motorrad-Klamotten gezwängt, als ich ein Wohnmobil die Straße herunterrollen sehe.
Deutsche auch noch.
Gehts hier zum Hafen?
Gibts dort Fahrkarten nach Kischi?
Wir brauchen eine Weile, bis wir das Woher und Wohin und unsere bisherigen Erlebnisse ausgetauscht haben.
Sie gehören zu einem Wohnwagen-Konvoi, der auch Richtung Murmansk unterwegs ist.
Schließlich fahren sie weiter, um noch vor Schalterschluss ein Ticket zu erstehen.
Auch ich mache mich auf den Weg ins Hotel.
Das heißt, ich hab es vor, aber ich komme nicht weit.
Steckt mein Vorderrad in einem Schlagloch? denke ich, als es plötzlich nicht mehr weiter geht
und die ganze Fuhre sich sanft auf die linke Seite legt.
Nein, kein Schlagloch.
Aber was dann?
Das Vorhängeschloss in der Bremsscheibe!
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Ich fahre sehr verhalten Richtung Hotel.
Zum Bremsen muss ich immer zwei mal nachgreifen, ehe sich was tut.
Die rechte Scheibe hat einen ordentlichen Schlag.
Was nun?
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Irgendwo hier muss es gewesen sein, denke ich, während ich langsam durch die schmalen Vorstadtstraßen rolle.
Kleine Häuschen, Apfel- und Pflaumenbäume hinter Bretterzäunen, Garagen.
Hier irgendwo – bilde ich mir ein - bin ich heute Morgen an einer kleinen Auto-Schmiede vorbeigekommen.
Ich biege auf gut Glück rechts-links-rechts ab.
Hinter mir lautes Geknatter.
Mit Schwung überholt mich ein grobstolliger Eintopf.
Der Fahrer in schweren Endurostiefeln und Protektorenweste hält vor einem Eisentor und lehnt sein hochbeiniges Gerät an den Zaun.
Ich halte neben ihm, deute auf mein Vorderrad.
„Mne nuschen remont.“
„Stay here! „ Er schiebt das Tor auf.
„Come on!“

Hinter meiner AT wird das Tor verriegelt.
Er schält sich aus der Kluft, knuddelt liebevoll seine Frau und sein vielleicht dreijähriges Söhnchen, dann wendet er sich wieder mir zu.
"The new Africa Twin? From twenty sixteen? Verry nice."
Er verschwindet im Garten hinterm Haus .
„I have one too.“ sagt er fröhlich und schiebt sein Schätzchen ins Blickfeld.

Mir wird schnell klar, dass ich hier goldrichtig gelandet bin.
Kaum haben wir mit vereinten Kräften die AT auf den Hauptständer gewuchtet,
hat er schon einen akkurat passenden solide geschweißten Bock unter den Motorblock geschoben, der das Vorderrad ins Schweben bringt.

Ein Blechcontainer beinhaltet eine komplette Werkstatt.
„Take all tools you need“ sagt er und beginnt, an seiner Haus-Baustelle zu werkeln.
Mein Bordwerkzeug pack ich gar nicht erst aus.

Schnell hab ich das Vorderrad raus und die Bremsscheibe runter.
Eine Alu-Strebe des inneren Kranzes ist leicht verbogen,
der dort sitzende Floater klemmt und bringt nichts mehr zum floaten.

Ein schön planer Ambos und ein paar gefühlvolle Hammerschläge. Mehr ist hier nicht nötig.
Keine zehn Minuten später hab ich alles wieder verschraubt, Hammer und Nusskasten wieder ordentlich verstaut.
Kurze Funktionsprobe: Alles so, wie es soll.

„Come on, I’ll show you my other bikes.“

Was sich dann aus der Plane schält, verschlägt mir soweit die Sprache, dass mir nur noch ein
„Wow“ entfleucht.

Eine M72. Dreiundsechzig Jahre alt. Kopie der BMW von 1940.

"With original side valves! “

Einiges daran dürfte deutlich jüngeren Datums sein.

Er stellt mir den „Konstrukteur-Ingenieur“ vor, der sich für ein Foto postiert.

Dann wechseln sich die beiden bei dem schweißtreibenden Versuch ab,
den 750er Motor per Kickstarter aus dem Schlaf zu holen.
Es gelingt nur teilweise. Nach einigen infernalischen Brüllern schläft er wieder ein und lässt sich vorerst nicht mehr stören.

 

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Seit knapp 16 Stunden rolle ich, von einigen kurzen Abstechern und Pausen abgesehen, auf der M18 nach Norden.
Vor zwei Stunden habe ich das letzte Anzeichen menschlicher Siedlungen passiert.
Seit dem bieten Bäume oder dünne Wolkenschleier immer seltener Schutz gegen die Sonne,
die auf dem Horizont schwimmt.

Mitternacht kommt und geht.
Das blendende Sonnenlicht bleibt.

Die fast leere, fast schnurgerade Straße,
die ewig gleiche Landschaft,
das monotone Raunen des Motors,
all das ist nicht wirklich gut geeignet, mich noch länger wach zu halten.

Ich brauche endlich einen Platz für mein Zelt.

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Heute Morgen bin ich sehr ausgeruht und bei bestem Wetter in Petrosawodsk gestartet.
Der eine Tag Fahrpause, den ich auf der Insel Kischi verbracht hatte,
hat mich darauf brennen lassen, endlich wieder Kilometer zu machen.

An den Kivach-Wasserfällen bin ich drei Ukrainern begegnet,
die auf ihren zwei vollbepackten Motorrädern auf dem Weg zu einem
Motorradtreffen an der Barent-See unterwegs sind.

Ich überschlage schnell meinen Zeitplan,
ob ich es mir leisten kann, dieses Treffen mitzunehmen.

Es ist zum Verzweifeln.
Mein enges Zeitfenster erwürgt jede Spontaneität.
Ich schwöre: Vor meiner nächsten Reise kündige ich meinen Job!
Falls ich bis dahin im Lotto gewonnen habe.

Am Wochenende des Treffens werde ich schon irgendwo in Norwegen oder Schweden sein.

Immerhin rollen wir bis zum Abend gemeinsam gen Norden.

Gemeinsam stiefeln wir auch, in Wolken von Stechinsekten gehüllt,
die zwei Kilometer durch sumpfige Heide bis zu den Petroglyphen- Felsen von Belomorsk.

Ich erweitere bei der Gelegenheit meinen Vokabelschatz:
Kamary – Mücken.
Ovodui – Bremsen.
Beresinka – kleine Birke.

Die letzte Eiszeit ist über die Kola- Halbinsel gefahren wie ein Schwamm über eine vollgeschriebene Tafel,
denke ich mir, als wir die granitenen Flächen erreichen,
die sich nur knapp über die umgebenden Sümpfe erheben.
Ich muss eine ganze Weile suchen, bis ich die erste Steinritz-Zeichnung finde.

Was ist das?
Ein Fisch?

Diese handgroße Figur hier ist schon eindeutiger:

Dann entdecken wir den offensichtlich fachkundigen Führer.
Er übersetzt uns die hier niedergeschriebenen Geschichten aus der Steinzeit-Sprache in modernes Russisch.

Meine drei neuen ukrainischen Freunde machen mir die Sprachsuppe etwas bekömmlicher,
indem sie noch ein paar halbgare Englischbrocken hinein rühren.

Aber eigentlich ist das nicht nötig.
Die Bilder haben über siebentausend Jahre nichts von ihrer erzählerischen Wucht eingebüßt.

Nach und nach schärft sich mein Blick, und finde immer wieder neue Bildchen.
Hier gibt es bestimmt hunderte!

Rentiere folgen einem Flusslauf.
Fährten von Rentierhufen und Bärentatzen und Wolfspfoten kreuzen sich dramatisch.
Fischer in Einbäumen.
Jäger auf Schneeschuhen….


Die drei Ukrainer laden mich ein, im nahegelegenen Kem bei Freunden zu übernachten und morgen mit ihnen auf die Solowetski- Insel im weißen Meer überzusetzen.
Dort gibt es das berühmte Kloster zu besichtigen.
Ein Wald aus Zwiebeltürmen über Mauern aus tonnenschweren Findlingen.
Weltkulturerbe!

Ich muss an Solschenitzyns Roman „Archipel Gulag“ denken.
Das Lebenwollen und Sterben auf dieser Insel zu Zeiten Lenins und Stalins.
„Lasst uns mit eiserner Hand
die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben!“
stand damals über einem Tor des alten Klosters.
„Freiheit durch Arbeit“ über einem anderen.
Auschwitz am Polarkreis.

Heute erinnert wohl nicht mehr viel an dieses Lager.
„Hier weinen die Mauern und die Pilze sprießen aus Leichen.“ schreibt ein Überlebender.

Nein, ich mag nicht an diesen Ort reisen und mich in den Touristenstrom drängen.
Es kommt mir so vor, als wird hier die Auferstehung russischer Größe gefeiert,
um seine eigene Geschichte zu vergessen.

Auch auf eine Übernachtung unter festem Dach habe ich keine Lust.
Schon gar nicht auf das quasi unausweichliche Verkosten von Hochprozentigem.

Der Tag ist jung, das Wetter ist bestens, ich fühle mich fit.
Noch ein Foto vom Weißen Meer, dann geht es weiter nach Norden.